Höhenflug und sanfte Landung

Er gehört zu den erfolgreichsten Sportlern, die Deutschland hervorgebracht hat: Sven Hannawald. In diesem Jahr feiert der ehemalige Skispringer seinen fünfzigsten Geburtstag. Zeit für eine Bestandsaufnahme - und ein Gespräch im Golfclub Wörthsee.

Ein Interview.

GREEN: Herr Hannawald, am 9. November 1989 kündigte das SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski in einer konfusen Erklärung die Reisefreiheit für alle DDR-Bürger an und brachte damit die Diktatur praktisch zu Fall. Sie feierten am gleichen Tag Ihren 15. Geburtstag

Sven Hannawald: Ein irrer Zufall. Ich war damals schon seit drei Jahren in der Kinder- und Jugendsportschule (KJS) im sächsischen Klingenthal. Ich glaube, wir haben das im Fernsehen gesehen, bei der aktuellen Kamera. Großartig einordnen konnten wir das aber damals nicht, wir haben höchstens gedacht: „Oh, gut, jetzt können wir ja überall hinfahren, sogar nach Spanien oder so." Unseren Alltag aus Training und Schule hat das aber erstmal gar nicht beeinflusst.

Der Tagesablauf in der Kinder- und Jugendsportschule war sehr strukturiert

Ja, ich habe mich da sehr aufgehoben gefühlt in der KJS. Alles war koordiniert, eine komplette schulische und sportliche Förderung. Strenge Disziplin wurde uns vorgelebt. Diese Grundordnung hat den Alltag im Grunde vereinfacht.

Dieses Korsett hat Sie als pubertierenden Jugendlichen nicht eingeengt...

Im Gegenteil, ich habe da sehr gut reingepasst, habe nichts vermisst. In diesem System hatte man keine großen Fragen und auch nicht Tausende von Wahlmöglichkeiten, wie es Jugendliche heute haben. Für meine sportliche Entwicklung war das perfekt.

Stimmt es, dass man Ihren Mittelhandknochen im Alter von sechs Jahren vermessen hat, um eine Prognose über Ihre spätere Körperstatur zu erhalten?

Ja, das war so. Ständig wurden Daten gesammelt, viele Daten, schon von klein auf. Es gab ja das ESA-System, die „Einheitliche Sichtung und Auswahl“, mit seinen Förderungsstufen, untermauert durch sportwissenschaftliche Forschung. Die Funktionäre haben auch die Eltern angeschaut, sogar die Statur der Großeltern. Dann wusste man in etwa, wen man für welche Sportart auswählen konnte. Ich war optimal fürs Skispringen geeignet. Groß und schlank.

Sie haben in Klingenthal noch zwei Jahre nach dem Mauerfall Ihren Realschulabschluss gemacht, dann ging es mit 16 in den Schwarzwald, nach Hinterzarten ins Skiinternat. Wie hat man Sie dort aufgenommen?

Ja, es gab natürlich Sprüche und dumme Ossi-Witze. Aber das hat mich nicht weiter gestört. Durch den Sport hatte ich die Möglichkeit, dem zu entgehen. Ich habe gedach: „Laber nur! Am Wochenende nach dem Wettkampf stehe ich wieder auf dem Podest ganz oben und du ganz bestimmt nicht."

Sven Hannawald im GC Wörthsee © Tobias Hennecke

Inwiefern?

Vor allem, dass so viele junge Leute die AFD gewählt haben. Die scheinen woanders keine Zuflucht mehr zu finden. Es liegt wohl auch an den Eltern und ihrer Erfahrung mit dem Kapitalismus nach der Wende.

Sie wurden auch Sportler des Jahres, noch vor Michaeel Schuhmacher. Die FAZ schrieb damals: „Er gehört jetzt dazu, zu den großen Olympiasiegern, Wimbledon-Champions und Tour-de-France-Gewinnern“. Haben Sie sich selbst auch zugehörig gefühlt oder gab es da einen Rest Zweifel?

Ich glaube die wenigsten Menschen spüren in so einem Moment, was sie wirklich erreicht haben. Durch diesen Sieg, auch durch die Auszeichnung als Sportler des Jahres, wurde ich plötzlich auf einer ganz anderen Ebene gehandelt. Harte Arbeit und Entbehrungen zahlen sich aus. Es lohnt sich. Meine Geschichte steht für viele Sportler, die an sich glauben und Erfolg haben. Michael Schuhmacher war mein großes Idol, zu solchen Menschen habe ich immer aufgeschaut. Ich stehe aber nicht auf der gleichen Ebene und fühle mich auch nicht so. Aber ja, es war schon krass, auf einmal sitzt du bei „Wetten dass“ neben Claudia Schiffer und Boris Becker.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie schon vor Ihrem Sieg in Bischofshofen negative Gedanken hatten. „Bitte erlöst mich, lass es endlich vorbei sein“, heißt es da. Was hat Sie damals so gequält?

Ich wollte einfach nur springen. Nach meinem dritten Sieg in Innsbruck war die Erwartungshaltung und die Medienpräsenz unglaublich hoch. Ich hatte keinen Rückzugsraum mehr. Jeder lief hinter mir her. 100 Kameras aus aller Herren Länder waren ständig auf mich gerichtet. Und ich musste und wollte mich auf diese letzten Sprünge konzentrieren.

Eine unglaubliche mentale Anstrengung ...

Vor dem letzten Sprung war es mir völlig egal, ob ich gewinne oder nicht. Als es dann vorbei war, war es wie eine Erlösung. Am Ende hatte ich erhebliche gesundheitliche Probleme, aber ehrlich, ich würde alles wieder so machen.

Sven Hannawald im GC Wörthsee ©Tobias Hennecke

Die Diagnose lautete dann „schwere depressive Episode mit somatischem Syndrom, ausgeprägtes Burnout-Syndrom.“ Dazu kam eine Essstörung: Sie wogen nur noch 60 kilo bei einer Größe von 1,85 Meter. Sie entschlossen sich zu einer Therapie.

Zuvor war ich anderthalb Jahre bei Ärzten, man konnte mir nicht helfen. Ich war müde, gleichzeitig total rastlos, innerlich aufgedreht. Der Körper hat mir gezeigt, dass nichts mehr geht. Ich ging dann zur Therapie in eine Klinik. Das war damals der wunderschönste Ort der Welt. Ein neutraler Ort, an dem ich wieder zu mir selbst kam.

Ihre Karriere als Skispringer stand auf der Kipppe.

Die Vorstellung, die Karriere aufzugeben, löste auch wieder Angst und Unruhe aus. Aber ein Burnout ist keine Erkältung, die man mal schnell kuriert. Mir wurde klar, dass es mit dem Skispringen nichts mehr wird.

Sie erzählen davon sehr offen in Ihrem Buch und bei Ihren Vorträgen

Das gehört dazu, ich habe immer alles offen erzählt, sonst könnte ich nicht in den Spiegel schauen. Ich wäre mir nicht treu. Die Ehrlichkeit führt dazu, dass ich bei meinen Vorträgen Menschen erreiche, ich gelange in ihre Herzen und sie ziehen vielleicht Rückschlüsse für ihr eigenes Leben.

Nach der erfolgreichen Therapie haben Sie sich ab 2005 dem Motorsport zugewandt. Wer mal Skiflugweltmeister war, braucht immer wieder den Adrenalinkick?

Ja, irgendwie schon. Die Kunst im Motorsport ist die Geschwindigkeit in den Kurven. Da bringt man sich und das Auto an die Grenzen, eine Mischung aus Angst, Risikobereitschaft und Mut. Dem Skispringen nicht unähnlich.

Und Motorsport war dann auch Ihr Weg zurück in die Normalität?

Vom Skispringen loszulassen, war sehr schmerzvoll. Im Motorsport fand ich Abstand von der Welt, in der ich mich bislang bewegt hatte, ich fühlte mich wohl.

Irgendwann haben Sie das Lenkrad gegen den Golf- Sie mal wieder entschleunigen?

Nach einer Veranstaltung im Green Hill Aschheim, es muss 2015 gewesen sein, konnte man auf die Driving Range und ein paar Bälle schlagen. Seitdem hat mich das gepackt. Athletik, die Technik und das Material. Nicht mit Gewalt, dann ist es das Horrorhobby. Ich hatte zu der Zeit auch einen Hund, den ich leider einschläfern lassen musste, das Golfspiel war eine gute Sache, mich auf etwas anderes konzentrieren zu müssen und dadurch den Tod meines geliebten Tieres besser zu verarbeiten.

Wie oft spielen Sie?

Ich spiele so oft es geht, aber momentan stehen unsere beiden Kinder im Mittelpunkt. Ich versuche, so viel Zeit wie irgend möglich mit ihnen zu verbringen. Wenn sie mal aus dem Haus sind, gehe ich beim Golf „All-In“. Der GC Wörthsee ist in Deutschland der einzige Partner-Club vom Skiverband und ich kann hier immer spielen.

Sie veranstalten auch Golfturniere zu Gunsten Ihrer Stiftung

Ja, nächstes Jahr zum neunten Mal. Wieder im Wittelsbacher GC. Korbinian Kofler, der Clubmanager, unterstützt uns dabei sehr. Die Erlöse fließen in die Sven-Hannawald-Stiftung.

Wie sieht jetzt der Rest des Jahres für Sie aus?

Ich freue mich auf die Vierschanzentournee, die ich als Kommentator und Experte bei der ARD begleiten werde. Dann kommt die nordische Skiweltmeisterschaft in Trondheim. Hoffentlich werden wir sehr oft die deutsche Hymne hören, das ist auch für mich schön. Ich singe leise mit und erinnere mich daran, wie schön es war, als ich selbst auf dem Podium stehen durfte.

Herr Hannawald, vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person

Sven Hannawald (* 9. November 1974 im sächsischen Erlabrunn) ist ein ehemaliger deutscher Skispringer und heutiger TV-Experte bei der ARD sowie Unternehmensberater. Hannawald gewann 2002 als erster Sportler die Vierschanzentournee mit Siegen in allen vier Wettbewerben. Bei den Olympischen Winterspielen 2002 in Salt Lake City, USA, holte er mit der Mannschaft Gold. Zuvor wurde er 2000 und 2002 zweimal hintereinander Skiflug-Weltmeister. Bei den Nordischen Skiweltmeisterschaften 1999 und 2001 war er mit vier Medaillen erfolgreich, darunter zweimal Gold mit dem Team. 2002 wurde Sven Hannawald als Deutschlands Sportler des Jahres geehrt. 2005 teilte Hannawald mit, dass er sich nach erfolgreicher Behandlung seines Burnout-Syndroms nicht mehr den Strapazen des Profisports aussetzen wolle, und beendete damit seine Karriere. 2013 veröffentlichte er sein Biografie „Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben.“ Sven Hannawald ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er lebt mit seiner Familie in Gauting bei München.